Kennen Napolitaner eigentlich auch Ruhe?
Autos hupen, aus der Kirche San Vincenzo de’Paoli quillt eine Gesellschaft, vom Balkon ruft einer noch irgendjemanden, der schon längst um die nächste Ecke gebogen ist, noch irgendwas zu. So oder ähnlich stellt man sich Neapel und die Camorra vor. Nur gefährlich scheint es hier rein gar nicht. Sondern einfach nur laut. Menschen wuseln durch die Gassen und quetschen sich an den Marktständen vorbei. Laute Italo-Musik schallt aus einem Radio; irgendwer trägt es auf seiner Schulter durch die Strassen, langsam entfernt sich die Musik und wird immer leiser. Je nach Tageszeit findet man hier auch die berühmten Müllberge – und ja, mitunter können die auch irgendwie in Brand geraten. Was man im Viertel Sanità nicht findet, ist Ruhe.
Das Erreichen der Altstadt macht sich dadurch bemerkbar, dass es zwar leiser wird, aber voller. Hier treten sich Einheimische und Besucher gegenseitig auf die Füsse. Während sich die einen schnellen Schrittes am Dom und über Piazzas durch die Menge schieben, bleiben die anderen immer wieder unverhofft stehen. Machen hier ein Foto, gucken dort in einen Hinterhof, beäugen im nächsten Café die Auswahl an napolitanischen Süssigkeiten (von Baba bis Sfogliatelle). Was man hier findet, sind Kirchen an jeder Ecke. Und wenn es keine Kirche ist, dann ist es ein kleines Stehcafé für den nächsten Espresso.
Es scheint, als gäbe es in Neapel wirklich keine Stille. Aber dann läuft man immer weiter aus dem Stadtzentrum heraus, durch die rechtwinkligen Gassen des Spanischen Viertels. Sitzt fast alleine in der Funicolare. Und erschrickt plötzlich: kein Geräusch, kein Vogel, der zwitschert, kein Hupen. Einfach nichts. Bis man wieder auf die nächsten Reisenden trifft, die ebenfalls den Ausblick über die Stadt vom Castello Sant’Elmo geniessen. Neben Ruhe findet man hier nämlich den schönsten Blick über die Bucht von Neapel mit dem Vesuv im Hintergrund.
Neapel im Oktober 2017