Es ist morgens um kurz nach 8 Uhr und die Sonne kommt hinter den Berghügeln hervor. Sie taucht die Häuserfassaden entlang der Promenade in leuchtendes Orange und Gelb. Sonnenreflexe tanzen auf dem Luganersee. Der Postbus fährt vorbei. Marissa wirbelt in ihrer Bar umher, hinter der Kaffeemaschine, in der Küche, wünscht jedem einen schönen Tag. Hier an der Uferpromenade treffen sich früh morgens die Einheimischen bei einem Kaffee auf dem Weg zur Arbeit oder auch einfach so. Alle sitzen sie an den vier Tischen entlang der Strasse, grüssen sich, verwickeln einander in ein kurzes Gespräch. Ich setze mich dazu und frühstücke. Die Chill-out-Lounge aus plastifizierten Korbsofas und -sesseln auf der anderen Strassenseite direkt am Wasser interessieren niemanden. Erst später am Tag, mit den Touristen, verlegt sich der Barbetrieb dorthin.
Ansonsten ist es noch still in Morcote. Das könnte daran liegen, dass die meisten Dorfhäuser leerzustehen scheinen: entweder zum Verkauf oder als ungenutztes Feriendomizil. Es könnte auch daran liegen, dass die Tagestouristen erst am späten Vormittag erwartet werden. Unklar bleibt jedoch, ob hier in Morcote einfach die Sommersaison beendet ist. Oder ob gar die Ära des mondänen Morcote vorbei ist. Auf den Steinfussboden unter den Arkaden zeichnen sich noch verblasst die Markierungslinien ab, die einst zeigten, bis wohin Läden ihre Waren aufstellen dürfen und wo ein Durchgang zum Flanieren frei bleiben muss. Heute betrachtet scheint es kaum vorstellbar, dass hier einst Souvenirläden, Delikatessengeschäfte und Boutiquen aus allen nähten platzten, um den Gästen ein Stück Morcote mit nach Hause zu geben. Ich laufe durch beinahe leere Arkaden, vorbei an verschlossenen grossen Holztüren.
Aber wer nimmt sich heute schon noch Souvenirs aus den Ferien mit nach Hause? Einst haftete an ihnen die Exotik des Unbekannten, die Erinnerung an heisse Sommertage und die Hoffnung, die Ferienstimmung in die eignen Wohnung bringen zu können. Wir sammelten Schneekugeln mit dem Brandenburger Tor, getöpferte Aschenbecher in Zitronenform aus der Toskana und winzige Lederportemonnaies geprägt mit dem Namen unseres Lieblingsurlaubsorts auf Mallorca. Nutzloser Nippes, der zu Hause im Regal verstaubte, und spätestens seit der Zeit der ständigen Selbstoptimierung und Marie Kondo in der Mülltonne verschwunden ist. Und mit ihr verschwanden die meisten Souvenirläden gleich mit. Nicht schade ist es um den Ramsch aus Plastik. Schade ist es um das traditionelle Handwerk: Wer in den letzten Souvenirladen Morcotes spaziert und sich die Postkarten aus den 60er-Jahren anschaut, sieht, wie die Händler unter den Arkaden glänzende Kupferkessel, handgeflochtene Strohkörbe und Sonnenhüte in allen erdenklichen Formen feilgeboten. Der Tourist war auch gütiger Bewahrer alter Handwerkstraditionen. Heute müssen Souvenirs vor allem praktisch sein. Also kaufe ich mir sechs alte Postkarten und im kleinen Supermarkt nebenan Honig aus Morcote und Amaretti aus Lugano.
Ich betrachte die alten Postkarten und vergleiche sie mit dem Ort von heute. Was sich nicht verändert hat, sind die Restaurants unter den Arkaden und entlang der Uferpromenade. Es würde nicht mal verwundern, wenn es die selben sind, wie vor sechs Jahrzehnten. Zumindest scheinen einige doch in der Zeit stehen geblieben zu sein. Vielleicht nicht gerade in den 60er-Jahren, dann doch zumindest in den 80ern. Die eierschalenfarbenen Plastikstühle und die Papiertischsets erinnern mich an alte Kinderfotos meiner Mutter. Rustikale Holzvertäfelungen, Gusseiserne Lampen aus Butzenglas und Tischdecken mit verblassten floralen Muster wirken wie vergessen und machen gleichzeitig den Charme des Ortes aus. Und es zeigt nun einmal mehr, das auch Zeitreisen möglich ist.